Die Griechen von Görlitz im 1. Weltkrieg
Die Geschichte der Griechen von Görlitz ist eine Begebenheit aus dem 1. Weltkrieg.

Heute begehen wir in Deutschland den Volkstrauertag. Ich freue mich, dass Gastautor Wassos Andrikopoulos mir erlaubt hat, einen Artikel von ihm heute im Hellas Blog zu veröffentlichen.
Wassos – auch Vasili genannt – nimmt uns mit in eine Stadt, die heute an der östlichen Grenze Deutschlands liegt: Görlitz. Genau genommen liegt nicht die ganze Stadt an der östlichen Grenze unseres Landes. Die wird nämlich durch den Fluss Oder gebildet. Der östliche Stadt von Görlitz heißt heute Zgorzelec und gehört zu Polen.
Um es noch verworrener zu machen: Das deutsche Görlitz gehört heute zum Bundesland Sachsen. Das war nicht immer so.
Vasili nimmt uns mit in eine Zeit, die mehr als 100 Jahre zurück liegt. Damals gehörten auch weite Gebiete östlich der Oder zu Deutschland. Görlitz war ein Teil von Preußen und gehörte landsmannschaftlich zu Schlesien.
Während des ersten Weltkriegs mussten sich griechische Soldaten des IV. griechischen Armeekorps in Görlitz aufhalten. Sie gerieten in deutsche Gefangenschaft und landeten in der Stadt an der Oder. Sie waren aber (noch) keine Kriegsgegner. In Görlitz konnten sie sich relativ frei bewegen. Vasili erzählt die Geschichte.
Einer von ihnen war übrigens der berühmte Dichter Vasilis Rotas. Über ihn habe ich vor einem Jahr berichtet. Heute geht es um diese griechischen Soldaten aus einem ganz persönlichen, familiären Blickwinkel.
Zwischen Kavala und Görlitz
Dieses ist eine vergessene Geschichte aus dem Ersten Weltkrieg. Vasili (Jahrgang 1968) erzählt sie Euch ganz persönlich.
Spurensuche meines griechisch-deutschen Erbes
Ich bin 57 Jahre alt. Ich habe viel gesehen, viele Sprachen gehört, viele Grenzen überquert. Aber manche Spuren lassen sich nicht auf Landkarten finden – sie führen in unsere eigene Vergangenheit, tief in die Geschichte der Familie, die man vielleicht nur bruchstückhaft kennt.
So war es mit Andreas, einem entfernten Verwandten meines Urgroßvaters väterlicherseits. Er war einer der Männer, die während des Ersten Weltkriegs von Griechenland nach Deutschland deportiert wurden – nicht als Kriegsgefangene im klassischen Sinne, sondern als Internierte, politische Bauernopfer zwischen den Fronten Europas. Seine Geschichte war lange verborgen, zwischen Schweigen, Andeutungen und alten Briefen. Erst als ich im letzten Jahr Görlitz besuchte, eine Stadt ganz im Osten Deutschlands, spürte ich zum ersten Mal wirklich, was es bedeutet, Vergangenheit zu berühren.
Griechenland 1916: Ein Land im inneren Krieg
Griechenland war zu Beginn des Ersten Weltkriegs offiziell neutral. Doch das Land war gespalten:
König Konstantin I., verheiratet mit der Schwester des deutschen Kaisers, vertrat eine pro-deutsche Haltung.
Premierminister Eleftherios Venizelos war pro-britisch und strebte den Eintritt auf Seite der Entente-Mächte an (Frankreich, Großbritannien, Russland).
Diese innenpolitische Zerreißprobe wurde als der „Nationale Schisma“ (Ethnikós Dikhásmos) bekannt und führte zu zwei rivalisierenden Machtzentren: einer königstreuen Regierung in Athen und einer Gegenregierung unter Venizelos in Thessaloniki.
Die Besetzung von Ostmakedonien und das IV. Armeekorps
Im Sommer 1916 marschierten bulgarische Truppen, unterstützt von deutschen Einheiten, in das griechische Ostmakedonien ein – eine Region, die offiziell neutral war.
Die dort stationierte griechische Einheit – das sogenannte IV. Armeekorps, unter dem Kommando von Oberst Ioannis Hatzopoulos – erhielt den Befehl, keinen Widerstand zu leisten, um Griechenlands Neutralität nicht zu gefährden.
Zwischen dem 15. und 27. September 1916 kapitulierten etwa 6.100 griechische Soldaten, darunter Offiziere, Unteroffiziere und einfache Wehrpflichtige. Sie wurden zunächst nach Serres gebracht und anschließend per Bahn über Sofia nach Deutschland deportiert.
Görlitz: Eine Stadt zwischen Welten
Die griechischen Internierten erreichten Görlitz (Sachsen) im Oktober 1916. Dort wurde ein spezielles Lager für das griechische IV. Armeekorps eingerichtet – kein klassisches Kriegsgefangenenlager, sondern ein interniertes Kontingent „befreundeter Soldaten“, wie es offiziell hieß. Denn formal war Griechenland nicht im Krieg mit Deutschland.
Besonderheiten:
- Die griechischen Soldaten durften sich relativ frei bewegen.
- Viele wurden zur Arbeit in Landwirtschaft, Bahnbau, Straßenunterhalt oder Hilfsdiensten eingesetzt.
Es entstanden Kontakte zur Görlitzer Bevölkerung: Freundschaften, kultureller Austausch, einige Liebesbeziehungen, sogar Ehen.
Es gab ein aktives Lagerleben: Theatergruppen, Sportwettkämpfe, Unterricht.
Die Stimmung schwankte zwischen Resignation und Hoffnung, Heimweh und Anpassung.
Die Lebensbedingungen waren im Vergleich zu anderen Lagern der Zeit gut, aber psychisch war es eine enorme Belastung: die Männer wussten nicht, ob und wann sie je zurückkehren würden – und ob sie in Griechenland als Verräter oder Helden gelten würden.
Meine Spurensuche – und ein stiller Moment in Görlitz
Mein Verwandter Andreas kehrte im Februar 1919 nach Griechenland zurück.

In meiner Familie sprach man nie offen über ihn. „Er war im Krieg in Deutschland“, hieß es nur, „aber nicht als Feind.“ Ich fand zwei Briefe, vermutlich von ihm. Einer war an seine Mutter gerichtet:
„Mána mou, der Nebel hier riecht anders. Nicht nach Salz, nicht nach Bergluft. Nur nach Eisen und Geduld. Ich bin nicht traurig, nur fern.“
Letztes Jahr fuhr ich nach Görlitz. Es war ein grauer Sonntag im Herbst. Ich hatte einen kleinen Olivenzweig aus dem Garten meiner Tante vom Peloponnes dabei. Den legte ich auf ein unscheinbares Grab auf dem städtischen Friedhof ab, dort, wo einige Griechen begraben sind, die die Rückkehr nicht erlebten.
Ich stand lange dort, ohne Worte. Ich stellte mir vor, wie Andreas hier ging, wie er vielleicht Deutsch lernte, vielleicht eine Frau ansah, die ihm zulächelte. Vielleicht war das Lager kein Gefängnis – aber es war auch kein Zuhause. Er war kein Held, kein Deserteur, kein Verbrecher. Er war ein Mensch zwischen Fronten.
Historischer Nachhall
Die Rückkehr der Griechen 1919 war politisch brisant. Viele wurden misstrauisch beäugt, da sie als Teil des königstreuen Militärs galten. Einige fanden nie wieder Anschluss. Andere emigrierten. Nur wenige wurden Teil der offiziellen Erinnerungskultur.
Heute erinnern in Görlitz:
- Ein Gedenkstein auf dem städtischen Friedhof,
- einzelne Gräber griechischer Internierter,
- sowie Forschungen von Historikern wie Evangelos Chrysos und lokalen Initiativen.
Trotzdem ist diese Geschichte bis heute kaum im kollektiven Bewusstsein Griechenlands oder Deutschlands verankert.
Epilog: Warum ich erzähle
Ich erzähle diese Geschichte nicht als Historiker, sondern als Enkel einer zerrissenen Zeit. Ich erzähle sie, weil ich glaube, dass Vergessen das zweite Sterben ist.
Und weil es wichtig ist, zu wissen, dass zwischen Kavala und Görlitz nicht nur Züge fuhren – sondern Schicksale reisten.
Wichtige Daten und Fakten
Vasili fasst die Reihenfolge der wichtigsten Ereignisse für uns zusammen:
- 1914 Griechenland erklärt sich neutral im Ersten Weltkrieg
- 15.–27. Sept. 1916 Kapitulation des IV. griechischen Armeekorps in Ostmakedonien
- Okt. 1916 Transport der 6.100 Soldaten nach Görlitz (über Bulgarien)
- 1916–1919 Internierung des griechischen Armeekorps in Görlitz
- Feb. 1919 Rückkehr der griechischen Soldaten nach Griechenland
- ab 2000 Forschung und Gedenkinitiativen in Görlitz und Griechenland beginnen
