Der Uhrturm von Edirne im Jahr 1913
Das Bild zu diesem Beitrag zeigt den Uhrturm der Stadt Edirne im Jahr 1913. Inzwischen ist er abgerissen. Heutige Besucher dieser türkischen Stadt sehen ihn nicht mehr. Beim heurigen Jahresthema des Hellas Blog geht es um alte Fotos. Auch wenn Edirne nicht zu Griechenland gehört, erzählt dieses Foto eine Geschichte, die nicht vergessen werden darf. Daher greife ich es im Hellas Blog auf.
Das Bild aus Edirne vom Uhrturm im Jahr 1913
Das Foto entstand in der Stadt Edirne, die auf Griechisch Adrianoupoli (Αδριανούπολη) und auf Bulgarisch Odrin (Одрин) heißt. In der deutschen Sprache verwendete man das Wort Adrianopel für sie.

Zunächst möchte ich einmal auf das Foto selbst eingehen. Wir sehen eine gepflasterte Straße, auf deren beiden Seiten Stadthäuser stehen. In der Mitte der Straße fließt ein Rinnsal.
Auf der Straße gehen Menschen, teils transportieren sie Waren auf ihren Schultern. Fahrzeuge oder Tiere für den Lastentransport sehen wir nicht.
Auf der linken Seite des Fotos sehen wir einen Baum ohne Blätter. Vermutlich ist das Bild im Winter entstanden. Dazu passt auch die warme Kleidung der Menschen auf dem Bild. Soweit ich es erkennen kann, sehen wir ausschließlich Männer.
An den Häusern rechts und links der Straße fällt ein interessantes Architekturmerkmal auf. Bei zweistöckigen Häusern hat das obere Stockwerk einen Vorbau mit Fenstern. Diese sind schlecht einzusehen. Man kann aber gut aus ihnen herausschauen und bekommt alles mit, was auf der Straße passiert. Das war die Domäne der moslemischen Frauen in der osmanischen Gesellschaft. Sie verließen ihre Häuser nur im Ausnahmefall. Das mag es auch bei Angehörigen anderer Religionen gegeben haben. Im Osmanischen Reich galten zumindest in der Mehrheitsbevölkerung klare Regeln: Männer draußen, Frauen drinnen. Eine ähnliche Architektur von Wohngebäuden aus dieser Zeit sehen wir auch in Nordgriechenland, zum Beispiel in Komotini.
Welchem Volk die Männer auf dem Foto angehören, kann ich nicht sagen. In Edirne spiegelte sich zu dieser Zeit die Völkervielfalt des Osmanischen Reichs auf dem Balkan wieder. Hier lebten Türken, Griechen, Bulgaren und Angehörige vieler anderer Völker. Leider herrschten im Jahr 1913 schlimme Spannungen.
Davon berichte ich weiter unten.
Der Makedonische Turm wird zum Uhrturm
Schließlich sehen wir im Hintergrund einen Uhrturm. Der steht auf einem der vier Türme der Stadtmauer, welche in Antike und byzantinischer Zeit die Stadt schützte.

(Bildquelle: Wikipedia)
Edirne war Hauptstadt des byzantinischen Themas Makedonien. Ein Thema war eine militärische Verwaltungseinheit des byzantinischen Reichs, wobei der Befehlshaber auch zivile Aufgaben hatte. Da der Turm aus dieser Zeit noch stand, bezeichneten die Menschen der Stadt ihn als den Makedonischen Turm.
Lange Zeit war er das höchste Gebäude der Stadt. 1867 ließ der damalige Gouverneur von Edirne den Turm mit Holzböden und Uhren aus Frankreich ausstatten. So erhielt der Makedonische Turm die Funktion eines Uhrturms. Das war am Ende des 19. Jahrhunderts der Weg, in einer Stadt eine allgemein gültige Uhrzeit festzulegen.
1894 stürzte das Bauwerk ein. Aus Stein- und Ziegelresten errichtete man einen neuen Turm, den wir auf dem Foto sehen. Die Uhren waren in den runden Nischen angebracht, die wir an den Fassaden sehen. Während des 1. Weltkriegs waren hier italienische Soldaten einquartiert, die einen großen Teil der Uhren stahlen. 1926 hat man die Uhren erneuert.
1953 gab es ein Erdbeben, das den Turm schwer beschädigt hat. Die Risse an den Wänden ließen sich nicht reparieren. Es bestand auch kein Bedarf für einen Uhrturm mehr, denn inzwischen waren Taschen- oder Armbanduhren sehr verbreitet. Daher hat man die drei Stockwerke des Turmaufbaus am 6. Juli 1953 gesprengt und abgerissen.
Auf dem Foto zu diesem Abschnitt seht Ihr ein Bild des makedonischen Turms, wie er heute noch zu sehen ist. Unterhalb davon befinden sich Steine und Mauern. 2004 hat das Edirne-Museum hier Ausgrabungen durchgeführt. Dabei haben die Archäologen Fundamente des römischen Kastells und Stadtmauern aus dieser Zeit ausgegraben.
Am 31. Mai 2017 ist der Makedonische Turm als Kulturdenkmal registriert worden.
Die Spannungen des Jahres 1913 in Edirne
Berichte ich vom Uhrturm im Jahr 1913, muss ich auch von den Menschen berichten, die damals in Edirne gelebt haben. Die Balkankriege haben der Stadt und ihren Menschen übel mitgespielt.
Im 1. Balkankrieg nahm Bulgarien die Stadt nach einer viermonatigen Belagerung am 26. März 1913 ein. Da ich vermute, dass das Foto im Winter entstanden ist, muss das wohl während der Belagerung gewesen sein. In Ostthrakien gab es zahlreiche Konflikte. Viele Bulgaren, die als Untertanen des Osmanischen Reichts dort lebten, suchten in Edirne Zuflucht.
Im Juni 1913 kam es zum 2. Balkankrieg. Der Türkei gelang es, die mit Flüchtlingen überfüllte Stadt zurückzuerobern. Das war für die Bulgaren sehr übel. Viele wurden getötet, viele vertrieben. Kirchen und andere Gebäude der Bulgarischen Minderheit haben die Eroberer zerstört. Später konnte ein Teil der bulgarischen Menschen nach Edirne zurückkehren.
Für Edirne gab es aber keine Ruhe. Hier lebten auch viele Griechen. Nach Ende des 1. Weltkriegs kam die Stadt durch den Vertrag von Sèvres zu Griechenland. Im Anschluss an den gescheiterten Kleinasienfeldzug und die Kleinasiatische Katastrophe war das vorbei. Mit dem Vertrag von Lausanne kam Edirne wieder zur Türkei. Zu diesem Staat gehört sie seitdem.