Drimakos
In der Antike hatten die Sklaven einen Schutzpatron namens Drimakos (Δρίμακος). Er war selbst ein Sklave, der gegen seine Sklaverei aufbegehrte. Das, was von ihm bekannt ist, ereignete sich auf der Insel Chios.
Die Insel Chios liegt in der Ägäis gegenüber der türkischen Küste. Von Çeşme (griechisch Κρήνη = Krini) aus ist sie gut zu sehen. Leider bin ich selbst noch nicht auf Chios gewesen. Aber die Geschichte des Drimakos macht mich neugierig auf die Insel. Deshalb berichte ich von ihm.
Was über Drimakos bekannt ist
Die Geschichte des Drimakos bezieht sich auf etwas, das für die antiken Gesellschaften eine Selbstverständlichkeit war: Die Sklaverei. Die Bewohner von Chios sollen mit als erste in Griechenland Sklaven verwendet haben. Die Spartaner und Thessalen hatten die Einwohner des Gebiets versklavt, in das sie eingewandert waren. Die Chier dagegen haben Menschen als Sklaven verwendet, die außerhalb von Griechenland stammten und für die sie einen Preis bezahlt haben. So geht die Überlieferung (zur Sklaverei im antiken Griechenland kommt unten noch etwas mehr).
Auf Chios liefen die Sklaven ihren Herren davon. Berichtet wird, dass die Götter über die Zustände erzürnt waren und die Sklaven daher bei ihrer Flucht unterstützten.
Die Berge im Inneren der Insel waren von Wäldern bewachsen, in denen sie sich verstecken konnten. Für ihren Unterhalt plünderten sie regelmäßig die Höfe der freien Menschen auf Chios und stellten für diese eine permanente Bedrohung dar.
Das war zu viel, und die Chier versuchten, die entlaufenen Sklaven militärisch zu besiegen. Das misslang jedoch. Denn einer dieser Sklaven war sehr tapfer und erfolgreich darin, die militärische Abwehr zu organisieren. Seine Kraft gewann er aus einem Orakel, das ihm die Gewissheit gab, das Richtige zu tun.
Der erfolglose Versuch die Sklaven zu besiegen
Mehrere Versuche der Einwohner von Chios, die Bedrohung durch die Sklaven militärisch auszuschalten, scheiterten. Drimakos Fähigkeiten, den Widerstand zu organisieren, waren einfach zu gut.
Er sah, dass die Chier nur ihr Leben riskierten, aber nichts gewinnen konnten. Darin sah er keinen Sinn. Insbesondere konnten auch „seine“ entlaufenen Sklaven ihr Leben nicht in Ruhe und frei führen.
Drimakos Idee: Ein Friedensvertrag. Drimakos Scheitern: Der Bruch des Vertrags
Daher schlug Drimakos den Chiern vor, dass sie mit ihm einen Vertrag schließen sollten. Die Bewohner von Chios sollten den Sklaven jährlich einen bestimmten Geldbetrag zahlen. Im Gegenzug führen diese keine Beutezüge mehr durch. So kam ein Waffenstillstand zustande.
Die Chier waren die jährlichen Zahlungen aber alsbald leid. Das Geld wollten sie sich sparen. Sie zogen wieder gegen die Sklaven und erhöhten den Verfolgungsdruck. Dabei konzentrierten sie sich auf die Person des Drimakos. Die Chier setzen auf ihn ein Kopfgeld aus.
Drimakos erkannte, dass er jetzt keine Chance mehr hatte. Auch war er es leid, unter ständiger Verfolgung zu leben.
Daher überredete er einen Freund dazu, ihn zu töten, den Kopf abzuschneiden und die Prämie dafür zu kassieren. So geschah es.
Die Chier nahmen an, dass der Tod des Drimakos ein Ende der Probleme mit den entlaufenen Sklaven bedeuten würde. Da hatten sie sich aber getäuscht. Genau das Gegenteil ist eingetreten. Drimakos hatte „seine“ Sklaven zurückhalten können. Nach dem Tod ihres Anführers nahmen sie die Plünderungen wieder auf.
Gründung eines Kults zur Verehrung des Drimakos
Jetzt bereuten die Chier, was sie Drimakos angetan hatten. Um das wieder gut zu machen, gründeten sie einen Kult des Drimakos. Die Seele des Sklavenanführers muss diese Verehrung bemerkt haben. Denn wenn jetzt jemand von seinen Sklaven in Gefahr war, erschien Drimakos ihm im Schlaf und warnte ihn.
War Drimakos eine historische Persönlichkeit?
Zur Geschichte des Drimakos fehlen Zeitangaben. Ich kann nicht einschätzen, wann sie sich zugetragen haben mag. Das mögen manche als Indiz dafür sehen, dass es sich bei seiner Geschichte lediglich um einen Mythos handelt. Meiner Meinung nach hat sie aber einen wahren Kern.
Wir kennen den Namen des Drimakos und sein Leben auf Chios aus antiken Quellen. Diese schildern ihn als konkrete Gestalt. Daher meine ich, dass es sich bei Drimakos um eine historische Persönlichkeit handelt
Woher Drimakos stammte und ob er einen anderen Namen hatte, ist nicht überliefert. Die Chier haben ihre Sklaven von außerhalb gekauft. So wird es berichtet.
Der Anfang seines Namens weist auf die Insel Drima (Δρίμα). Das ist eine Insel der Kleinen Kykladen, heute kennt man sie unter ihrem Namen Kato Andikeri (Κάτω Αντικέρι). Den Namen Drimakos könnte man als „der aus Drima“ lesen. Heute ist die Insel kaum mehr bewohnt, bei der letzten Volkszählung hat man 2 Einwohner festgestellt. Allerdings hat man Siedlungsspuren der Kykladenkultur festgestellt, und auch Gräber aus römischer Zeit sind nachgewiesen. Als gesichert geltend darf, dass Drima / Kato Andikeri in der Antike besiedelt war. Dass ein Mann aus Drima in Sklaverei geraten sein kann, ist nicht undenkbar.
Da er sich unter den Sklaven als Anführer durchsetzen und auch die Abwehr gegen die Soldaten von Chios erfolgreich koordinieren konnte, scheint er zumindest militärische Erfahrung gehabt zu haben. Vielleicht ist er nach irgendeiner Schlacht in Gefangenschaft geraten und dann als Sklave nach Chios verkauft worden. Das ist aber nur Spekulation, keine gesicherte Erkenntnis. Was von ihm überliefert ist und die Tatsache, dass die Chier ihre Sklaven von außerhalb gekauft haben, sind ein gewisses Indiz dafür. Mehr aber nicht.
Sklaverei im antiken Griechenland
Um die Geschichte des Drimakos einordnen zu können, möchte ich an dieser Stelle auf die Sklaverei im antiken Griechenland eingehen.
Bereits für die Bronzezeit ist Sklaverei nachgewiesen. So werden auf einer in Linear-B verfassten Tafel aus Pylos 140 Sklavinnen erwähnt. Es gab Ehen / Lebensverbindungen zwischen Sklaven und Freien. Einige Sklaven übten handwerkliche Berufe aus, manche sind sogar namentlich bekannt. Auch Homer erwähnt Sklaven in Ilias und Odyssee.
Die Landwirtschaft bildete in der Antike die Grundlage der griechischen Wirtschaft. Hier war der Einsatz von Sklaven weit verbreitet. Kleinere Bauern hatten ein oder zwei Sklaven, in großen Gütern wurden deutlich mehr eingesetzt.
Frauen sind oft zur Prostitution gezwungen worden. Sie führten ein sehr hartes und oft nur kurzes Leben. Fachleute, die ein Handwerk beherrschten, hatten es dagegen besser. Sie lebten teilweise ähnlich wie Freie und hatten auch die Möglichkeit, sich später freizukaufen oder sie wurden freigelassen.
Die Situation in Minen und Steinbrüchen muss für die hier eingesetzten Sklaven furchtbar gewesen sein. So etwas wie Arbeitssicherheit gab es nicht. Der permanente Staub lagerte sich in die Lungen ein. Kamen die Sklaven nicht bei einem Unfall ums Leben, mussten sie früher oder später ersticken.
Bekannt ist auch, dass es immer wieder die Flucht von Sklaven gab. Gegen Ende des Peloponnesischen Krieges flohen etwa 20.000 Sklaven aus Athen, was eine dramatisch hohe Zahl ist. Die Griechen bewiesen hier aber einen gewissen Humor. „Der Sklavenfänger“ (Δραπεταγωγός Drapetagōgós) lautet der Titel einer Komödie des Antiphanes aus dem 4. Jahrhundert v. Chr.
Große Sklavenaufstände wie im antiken Rom sind aus dem antiken Griechenland kaum überliefert. Die Geschichte des Drimakos erscheint hier eher als Ausnahme denn als Regel.
Was von Drimakos bleibt
Drimakos war in gewisser Weise ein Vorläufer des Spartacus, der in Italien einen gewaltigen Sklavenaufstand anführte. Beide sind sich ähnlich in ihrem Schicksal, denn letzten Endes fielen sie ihrer Rolle an Anführer der Sklaven zum Opfer. Während der Tod bei Drimakos selbst bestimmt war, fiel Spartacus – wie Appian berichtet – in seiner letzten Schlacht.
Was beide unterscheidet, ist ihre Wirkung auf die Nachwelt. Während die Anhänger des Spartacus von den Römern gnadenlos verfolgt und niedergemacht wurden, gingen die Chier mit dem Andenken an Drimakos anders um. Sie stifteten einen Kult, er bekam eine religiöse Funktion.
In dieser Rolle erschien er Sklaven im Schlaf und warnte sie vor Gefahren. Das erinnert viel an die Geschichten von christlichen Heiligen, die ähnliches taten. Aus diesem Grund meine ich, dass man in Drimakos einen (nicht christlichen!) Schutzpatron der Sklaven auf Chios sehen darf.
Bis 2004 stand die Geschichte des Drimakos noch in den Schulbüchern Griechenlands, danach aber nicht mehr. Daher besteht die Gefahr, dass er im Land in Vergessenheit gerät. In Chios Stadt ehrt man ihn mit einer Gasse, die Drimakou heißt. Sie ist für den Autoverkehr gesperrt, man geht leicht an ihr vorbei.
Auch gibt es seit einiger Zeit auf der Insel einen Wanderpfad, der nach Drimakos benannt ist. Wer daran Interesse hat, möchte bitte mit den Chiostrailfriends Kontakt aufnehmen. Leider habe ich nicht genau herausfinden können, wo dieser Wanderpfad liegt.
Meine Quelle
Von Drimakos gelesen habe ich in Saeculum, dem Jahrbuch für Universalgeschichte. In der Ausgabe vom September 1973 (Band 24, Ausgabe 3) hat der Althistoriker Joseph Vogt aus Tübingen einen Artikel veröffentlicht, der die Geschichte des Drimakos erzählt. Die erste Seite dieses Artikels ist in der eLibrary veröffentlicht. In einer gut sortierten Bibliothek könnt Ihr die komplette Ausgabe des Saeculum beziehen und den ganzen Artikel nachlesen.
Vogt bezieht sich auf zwei Quellen: Athenaeus (Ἀθήναιος) und Theopomp (Θεόπομπος). Leider hatte ich beim Abfassen dieses Artikels keinen Zugriff auf die zitierten Fundstellen.
Falls jemand aus dem Kreis der Leser Zugriff auf deren Werke hat, wäre ich sehr dankbar, wenn sie oder er mit mir Kontakt aufnimmt.
Was bedeutet Drimakos für mich?
Was von Drimakos bekannt ist, empfinde ich als eine ungeheuer spannende Geschichte. Das Leben eines Sklaven wird fassbar. So etwas gibt es nur selten. Sklaven waren in der Antike mehr oder weniger Verbrauchsmaterial. Sie waren da, taten was sie sollten oder wurden bestraft, wenn sie nicht gehorchten. Zwar kennen wir die Namen einiger Sklaven aus Griechenland oder Rom. Ihnen stehen aber unzählige andere gegenüber, von deren Existenz wir keine Kunde haben.
Die zornigen Götter: Eine Ausrede erfolgloser Chier
Dass die Götter über die Sklaverei der Chier in Zorn gerieten und die Sklaven deshalb unterstützen, glaube ich nicht. Diesen Teil der Geschichte halte ich für eine Story, mit der die Chier ihre Erfolglosigkeit im Kampf gegen die ausgebrochenen Sklaven zu erklären versuchten.
Das System der Sklaverei wurde auf Chios aber nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Wären die Götter aus Sicht der gläubigen Chier wirklich der Ansicht, dass die Sklaverei falsch war, hätten sie diese Praxis beendet. Das ist nicht passiert. Wir sind bei der Geschichte mit dem Zorn der Götter einer billigen Ausrede für eigene Erfolgslosigkeit auf die Spur gekommen und nichts anderem.
Auch diejenigen, die entlaufen waren und sich um Drimakos gesammelt haben, wollten nur ihre persönliche Freiheit. Dazu, dass sie über ihr eigenes Schicksal hinaus irgendwelche politischen Ambitionen gehabt hätten, ist nichts bekannt.
Auch können die Chier in Drimakos keine substantielle Bedrohung ihrer Gesellschaftsordnung gesehen haben. Denn ansonsten hätten sie keine kultische Verehrung begründet oder überhaupt nur zugelassen.
Drimakos: Ein Mann, der sich nicht in sein Schicksal fügte
Drimakos war ein Mann, den ein schlimmes Schicksal ereignete und der sich aus ihm befreien wollte. Diese Geschichte darf man ruhig auf ihren Kern reduzieren. Sie ist unglaublich spannend und berührt uns noch heute.
Dass muss auch in der damaligen Zeit ganz ähnlich gewesen sein. Denn ansonsten hätte Drimakos als Anführer geflohener Sklaven kaum zum Schutzpatron bedrohter Sklaven werden können.
Ich mag Drimakos und deshalb widme ich ihm diesen Artikel im Hellas Blog.
Ein Wort über das Bild zu diesem Blogbeitrag
Bei dieser Gelegenheit möchte ich mich für das langweilige Bild zu diesem Blogartikel entschuldigen. Mir ist kein Bild des Drimakos bekannt, das ich zur Illustration verwenden könnte. Daher habe ich zu dieser Grafik gegriffen, die einfach nur den Namen des Drimakos in den Mittelpunkt stellt.
Drimakos wird in den Tischgesprächen des Athenaios ( VI 265b ff. erwähnt, allerdings mit einem Verweis auf eine verlorene Stelle des Theopompos im 17. Kapitel der Historien. Er dürfte eher ein Mythos als eine reale historische Person sein!
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